H. U. Gumbrecht: Denis Diderot und die Peripherie der Aufklärung

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Titel
Prosa der Welt. Denis Diderot und die Peripherie der Aufklärung


Autor(en)
Gumbrecht, Hans Ulrich
Erschienen
Berlin 2020: Suhrkamp Verlag
Anzahl Seiten
400 S.
von
Andreas Burri

Lange kann darüber debattiert werden, wann exakt das ideengeschichtliche Phänomen der Aufklärung anfing und zu Ende ging, ob es eine einmalige Erscheinung der Neuzeit war und als eine solche mehr oder weniger scharf umrissene Identität ihren selbstgesteckten Zweck erfüllt oder verfehlt hat; oder ob sie weit in die Moderne überging und gar bis in unsere Tage kulturpolitisches Anliegen ist. Die Identitäten historischer Epochen ziehen an uns vorüber wie Wolken im bewegten Himmel, die unserer Erkenntnis lauter Schatten zuwerfen. Wir sehen momentan die Neuzeit und die Moderne. In der Neuzeit finden wir die Aufklärung, von der wir in westeuropäischer Literatur v. a. drei Sprachen vernommen haben: Englisch, Französisch und Deutsch. Einige französische Sätze hat Diderot geschrieben. Von der Moderne vernehmen wir Antworten auf diese neuzeitlichen Gespräche, und von diesen Antworten fallen einige als umfassende Kommentare aus, die nur schwer zu einem Abschluss finden, und von denen auffällig viele Deutsch sprechen.
Das Buch «Prosa der Welt». Denis Diderot und die Peripherie der Aufklärung hört hier vor allem Hegel: Urheber eines beachtlich langen Kommentars zur Aufklärung, der in der Moderne selbst wiederum eine Menge Kommentare nach sich zog. Nun liegt es in der Na¬tur eines Kommentars, durch erhöhte Instanz bzw. Distanz, also durch Objektivierung das Geschehen zu überblicken und Verbindungen zu entdecken, heißt: in gewisser Art und Weise zu systematisieren. Das Buch stellt den Systembegriff ins Zentrum seiner Diskussion. Es sieht in Hegel ein Paradigma der Moderne, das Dasein der Welt samt seinen metaphysischen Implikationen in einem System auf einen Begriff zu bringen. Dieses Denken der Moderne verstehe sich selbst in genetischer Abstammung von der Aufklärung, in der es das eigene Anliegen sehe, eben jene umfassende Systematisierung des Da und Dortseins. Besonders die Moderne konzentriere sich dann zunehmend auf die historische Dimension. Hegel stehe im 19. Jahrhundert für den dieses charakterisierenden Historismus (48–54).
Hegel äußere sich auch über drei Jahrzehnte seines Schaffens zu Diderot, wobei er aber keinen positiven Aspekt von dessen Denken in sein System einbaue. In seinen Vorlesungen über die Ästhetik gehe er via eine theoretische Erörterung über das Malen menschlichen Fleisches (als das für Hegels Philosophie des Geistes so bedeutsame «Ungeistige») zum für diese Studie zentralen Begriff über: «‹Prosa der Welt›» (42) (Beleg aus der Studie auf S. 41f.: «Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. I, in: ders., Werke, Bd. 13, 199»). Der Autor meint damit: «‹Prosa› bezieht sich in Wirklichkeit auf alles, was sich nicht dem menschlichen Denken in seiner Abstraktheit zuordnen und darunter subsumieren lässt» (41), also Zufälligkeit, Singularität, Kontingenz, und ferner, dass der Mensch, der absolut sein will, in der Welt bedingt sei, was sich v. a. in der materiellen Welt ausdrücke; Hegel setze dem die poetische Welt des Geistes entgegen. Nun schätze er aber dennoch Diderots Texte, nämlich in ihrer konkreten Weltlichkeit, der er Lebendigkeit zumesse. Dabei sei Bildung für Hegel Entäußerung: in ihr gebe der Geist sich in seiner Allgemeinheit auf, indem er in die Welt der Konkretion gehe, und komme schließlich bereichert zur Allgemeinheit, dem Begriff, dem System zurück. Diderots Prosa der Welt sei also für Hegel eine in seinem System notwendige Durchgangsstoffe der Phänomenologie des Geistes (36, 40–47, 65–67, 132–134, 148).
Diese Studie will zeigen, dass sich Diderot diesem sich auf Narrative stützenden Systembegriff dennoch entziehe und sich in diesem Sinne nur an der Peripherie der Aufklärung finden lasse, also zumindest mit einem Fuß im Bereich stehe, der nicht systematisierbar und insofern nicht immanent sei. Sie zeigt uns, dass sich Diderots Encyclopédie, deren alleiniger Redakteur er 1758–1772 war, fundamental von Hegels Enzyklopädie unterscheide: erstere sei getragen von der ontologischen Offenheit für das Konkrete, letztere vom Willen, die Details begriffen im historischen System hin zum Absoluten zu ordnen. Der Relativität des konkreten Daseins werde sich die Aufklärung bewusst, was sich u. a. in den Debatten um den Materialismus niederschlage; um 1800 verschwinden diese Fragen aber und finden in Hegels System ihren festen Platz: darin werde die Konkretion der Welt mehr und mehr in einer Narrative zu systematisieren versucht. Hegels Geschichte des Geistes (wie auch Darwins Geschichte der Körper) sei Paradigma dieser Moderne. Die Ansicht etabliere sich, dass alles im notwendigen System der Geschichte seinen Platz finde und man, um das konkrete Phänomen zu erkennen, nur seine Geschichte entdecken müsse (18, 26, 48–54, 347f., 368f.).
Diderots Schreiben unterscheide sich aber essentiell von dem, was dieses Weltbild des Historismus unter der Aufklärung als seiner Vorgeschichte verstehe; die individuelle Perspektivität sei Diderot kein Problem: «Seine Welt war eine Welt der Kontingenz, eine Welt, deren Phänomene stets vielfältige Reaktionen provozierten und daher eine ständige Offenheit erforderten.» (56) Es gehe ihm nicht darum, Materie und Geist in ein kompatibles, hierarchisches Verhältnis zu setzen; er nehme die Phänomene, wie sie sind. Urteilen sei ihm keine objektive Entscheidung gemäß einem stringenten System, sondern individuelle Stellungnahme. Weil er auf kein abstraktes System dränge und entsprechend keinen Bildungsplan für die Menschheit habe, sei er an der Peripherie der Aufklärung. Wiederholt vergleicht ihn der Autor mit Lichtenberg, Goya und Mozart. Diderots Denken sei aber nicht als ein Gegenprogramm zur Aufklärung zu verstehen, da es ja nicht stringent sein wolle. Sein Denken sei nicht systematisierbar, aber gerade deswegen eine zuverlässige Quelle für Energie, Kraft, Bewegung, Offenheit freien Denkens und herzvoller Sympathie. Dies mache ihn wohl zu einem beliebten Autor, dem man sich vorzugsweise in konkreten Studien zuwende, und eben nicht in einer systematischen Monografie, die meinte, ihn erschöpfen zu können (55–59, 82–85, 187, 256f., 270–272, 274–276, 332, 341f., 347f., 353f., 364–369).
Grundsätzlich mutet es ein wenig widersprüchlich an, dass wiederholt die Kontingenz, die Singularität, das Unbedingte an Diderot hervorgehoben wird, aber dennoch all dies in einer Argumentation bzw. Logik artikuliert ist, die selbst wiederum ein System voraussetzt. Denn letztlich will das Buch ja genauso verstanden werden wie Diderot selbst dies wollte. Weshalb hätte er sonst publiziert? Dass jeder Skeptizismus und Relativismus nur argumentieren kann, wenn er selbst wieder eine Wahrheit voraussetzt, ist ein bekanntes Paradox; erst recht kommen aber Fragen auf, wenn das Buch dieses Denken in einen – letztlich normativen – Kontrast zum ‹Willen zum System› des 19. Jahrhunderts setzt, insofern es dies nicht anders tun kann als selbst mit dem Anspruch, Wahrheit zu sagen.
Daneben kommen hier und da eher undifferenziert anmutende Pauschalitäten auf: «Wir wissen immer noch nicht, wie denn nun das ‹Bewusstsein› (oder gar das ‹Gewissen›) aus unserem Gehirn und unserem Körper hervorgeht, aber niemand bezweifelt heute noch, dass Körper und Gehirn tatsächlich die Grundlagen des Geistes bilden.» (202) Abgesehen davon, dass sich hinter einer solchen These viel an metaphysischem System (!) versteckt, könnte man auch anmerken, dass von den vielen, die heute leben, doch hier und da einige daran zweifeln, Bewusstsein und Gewissen lediglich auf Körper und Gehirn zu stellen.
Sind solche Zweifel mit wenigen Zeilen wegzuwischen? Ähnlich: «Wer wollte in unserer heutigen Welt (einmal abgesehen von ein paar Kreationisten) noch bezweifeln, dass der kognitive Apparat und das intellektuelle Potenzial des Menschen aus Grundkonfigurationen der Materie entstanden sein müssen?» (259) Dass erwähnte Zweifel hier ganz einfach von «ein paar Kreationisten» stammen, bedürfte vorerst einer terminologischen Klärung, und vermutlich eines neuen Begriffs für bibelfundamentalistisches Denken, das Genesis mit unreflektierter, unflexibler und allzu deutungssicherer Lesart gegen naturwissenschaftliche Erkenntnis setzt. Das Buch geht dann auch nicht auf andere theologische Finessen ein, wie z. B. dass ein so spannender Begriff wie «Prosa der Aufklärung» in Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Religion fällt, nämlich bei der Abhandlung über das Abendmahl (G. W. Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, ed. Werke 17, Frankfurt a. M. 1969 [suhrkamp taschenbuch wissenschaft 617], 329). Ferner leitet das Buch manchmal zu kulturpolitischen Spekulationen über, die hier und da tendenziös scheinen, wie dass im Gegensatz zur «Ökophilosophie» (202, 261), die, insofern sie die Menschheit als unendlich während wissen will, «anthropozentrisch» (261) sei und nur zu «intellektuell lähmenden moralischen Prämissen» (261) komme, Diderots Denken uns lehren könne, diese Natur, auch wenn oder gerade weil sie im Begriff sei zu verschwinden, bewusster zu genießen (202, 260f.) Dass wir in Umweltfragen konkretreales Leid vor Augen haben (werden) und entsprechend denken und handeln müssen, wäre als eines der vielen Resultate zu erachten, die uns Religion und Aufklärung gelehrt hätten.
Der Text konzentriert sich auf Diderots Schriften Le Neveu de Rameau, Jacques le fataliste et son maître, Le Rêve de d’Alembert, Les Salons und am Rande auf Lettre sur les aveugles und die Encyclopédie. Leider werden diese Texte im Buch höchstens flüchtig eingeleitet; wer sie nicht kennt, hinkt hinterher. Auch wenn es nicht bei jedem Buch über Diderot obligat sein kann, wäre es dennoch – besonders bei diesem in der Literatur eher vernachlässigten Autor der Neuzeit – willkommen, und bei einem Titel, wie ihn das Buch anführt, zu erwarten, dass wir historisch und biographisch mehr über Diderot erfahren. Das Buch hält (neben ein paar kleinen Exkur-sen dazu) weder über Diderots Leben noch über seine Zeit und Zeitgenossenschaft wie Rousseau, d’Alembert, Voltaire, d’Holbach o. a. eine übersichtliche Erzählung bereit, sondern tendenziell nur die bereits weit in der Diskussion situierten Thesen des Autors.
Diese haben, um nun von der Kritik weg zu kommen, durchwegs ihren Punkt und verdienen es, gelesen zu werden: Besonders die auf Hegel in Beziehung zu Diderot konzipierte Architektur ist klug und spricht ideengeschichtliche Grundzüge der Neuzeit und der Moderne an, was also nicht nur bei diesen beiden konkreten Den-kern, sondern auch bei mehreren Epochenbegriffen zu denkwürdigen Interpretati-onskonzepten führen kann.

Zitierweise:
Burri, Andreas: Rezension zu: Gumbrecht, Hans Ulrich: «Prosa der Welt». Denis Diderot und die Peripherie der Aufklärung, Berlin Verlag, 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 115, 2021, S. 444-446. Online: <https://doi.org/10.24894/2673-3641.00100>

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